Sabine Reich
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Ailingen, 8. Juli 2002

Reportage über BBB

Verrückt und exotisch
"Verrückt" wurde ich bezeichnet, als ich erzählt habe, was ich vorhabe, "verrückt" werde ich bezeichnet, wenn ich erzähle, was ich geschafft habe.
"Exotisch" habe ich mich gefühlt, als einzige Frau bei den 600er-Elite-Fahrern.
Aber mit beidem kann ich leben und bin beides schon gewöhnt - weil mein Hobby wohl doch nicht ganz so gewöhnlich ist. Aber Spaß gemacht hat es trotzdem, auch trotz Anstrengungen und Regen. Und ein wenig stolz hat es auch gemacht, zugegeben.
Die Zusammenfassung, der Rückblick könnte beinahe so lang werden wie die Strecke. Die Kurzzusammenfassung sind vier Sätze:
‚Was am Ende weh getan hat? Eigentlich alles.
Was trocken geblieben ist? Eigentlich nichts.'
Aber was bringt jemanden eigentlich dazu, solche schon zu erahnenden Strapazen auf sich zu nehmen? Nun, meine bisher längste Tagesetappe waren 300 km - also fand ich diese Strecke eine neue Herausforderung, ein neues Ziel.
Bei der Anfrage im Verein, ob jemand mitmacht, Reaktionen wie die: "Ich weiß mit meiner Zeit etwas Besseres anzufangen".
Also melde ich mich alleine an. Dann gibt es auf dem Fragebogen Rubriken auszufüllen wie "Übernachtung gewünscht" - aber nein, ich komme doch zum Radeln, nicht zum Schlafen! Oder "Begleitfahrzeug?" Nein, woher denn (als Single) und wozu denn? - Ich hoffe doch, dass die Angaben zur Organisation stimmen und bei den Ceckpoints immer alles zu haben ist, was man so braucht. Bleibt nur noch die Überlegung, wieviel Klamotten ich für eventuellen Regen, für die Kälte der Nacht und für die Radlichter benötige. Einen noch so kleinen Rucksack über 600 km auf dem Rücken kann ich mir nicht vorstellen - also so wenig Gepäck, dass es in Trikot-Taschen und in die größere Satteltasche passt - alles andere ist überflüssig, auf Streckenmitte können ja Wechselklamotten deponiert werden.
Und dann ist es soweit. Am Abend vorher, in noch frischem Zustand Stadtbummel im schönen Bern - und natürlich eine große Portion Spaghetti.
In der Nacht vorher schlägt logischerweise schon die Aufregung zu und ich bin viel zu früh wach - keine gute Grundlage für eine folgende Nachtfahrt!
Am Morgen: Startunterlagen holen: Ein suchender Blick, die Frage, ob ich hier richtig sei - Antwort: "Wenn du die Sabine Reich bist, ja." - Das war der Beweis meines Exoten-Daseins, denn der Name der einzigen Frau ist dem Organisator natürlich bekannt. Von Anfang an merke ich, dass alle Leute total nett sind und alles gut organisiert ist - bis auf das, dass sich in dem "Käseland" Schweiz noch nicht herumgesprochen hat, dass es Menschen gibt, die sich fleischlos ernähren. Geplant und organisiert sind nämlich nur Wurstsemmeln - aber, wie gesagt, lauter nette Leute - bis zum Mittag gibt es auch etwas für "Vegis".
Kurz vor dem Start: das Angebot der Massage nehme ich gerne an - und habe später das Gefühl, dass es echt geholfen hat; die ersten Verspannungen in den Waden kommen viel später als sonst - echt empfehlenswert!
Und nach einer kurzen Einweisung geht es - bei strahlendem Sonnenschein - endlich an den Start. Auch wenn wir wenige Teilnehmer/innen sind, ist es profi-mäßig organisiert: Absperrung, Polizei-Motorräder, Presse, ein paar Zuschauer, die uns noch einmal kräftig anfeuern.
Am Ende der Neutralisation gleich die ersten Höhenmeter - und schon ist das Feld in Gruppen aufgeteilt - und ich bin glücklicherweise nicht alleine: ich musste versuchen, so meine Vorüberlegungen, so lange wie möglich mit anderen mitzufahren: das spart nicht nur Energie, das macht auch mehr Freude: wenn man sich austauschen kann über die schönen Dörfer und Landschaften, die man durchfährt, wenn man gemeinsam den Weg sucht, wenn man sich miteinander einen Berg hinauf quält, wenn man sich im Dauerregen gegenseitig bei Laune halten kann, wenn man nach einer Pause gemeinsam schlotternd wieder auf's Rad steigt und sogar noch, wenn man einem Kollegen beim Platten am Berg im Dauerregen beim Schlauchwechsel helfen kann. Und ich hatte das Glück, nie alleine fahren zu müssen, ich war immer in einer Kleingruppe, da war ich echt froh.
Was spitze war? Die vielen netten Leute, die alles so gut für uns organisiert und vorbereitet haben, die hilfsbereit waren, die stundenlang ihre Posten gehalten haben - auch die lange Nacht hindurch - DANKE!
Was anstrengend war? Der Blumberg: Da musste ich etwas tun, was ich schon lange nicht mehr tat: absteigen und schieben. Und das mit meinem neuen Rad! Aber das hat leider eine schlechtere Übersetzung als das alte und ich hatte eben schon rund 190 km in den Beinen - und die nicht zu langsam. Und gegen Ende war natürlich jeder Hügel anstrengend aber nicht mehr so steil, und mit genügend Langsamkeit ging es immer weiter.
Was schade war? Dass in unseren Breitengraden die dunklen Nachtstunden so lang sind. So konnten die Touristen von weiter weg die schöne Landschaft um den Bodensee nicht sehen - da ich von Friedrichshafen komme, kenne ich die Gegend der Nachtfahrt weitgehend. Und bei Dauerregen und tiefhängenden Wolken konnte ich auf dem zweiten Teilstück auch nur noch eine Phantasiereise mit einem Hamburger machen: ‚Stell dir vor: Blauer Himmel, die Sonne glitzert auf dem Blau des Walensees, darauf Boote mit weißen Segeln.'
Was hilfreich war (außer den vielen netten HelferInnen)? Dass die meisten großen Kreuzungen Kreisel waren und wir so nicht ständig vor roten Ampeln standen - ich weiß gar nicht, wozu es noch Ampeln gibt!
Was stressig war? Dass die Streckenführung uns zur Freitags-Feierabendzeit auf Hauptverkehrsstraßen durch das nicht gerade kleine Rheinfelden geführt hat - Autos ohne Ende! Und die Autofahrer, die sich als Hilfspolizisten aufgeführt haben und uns angehupt, manchmal sogar geschnitten haben, nur weil wir nicht den Radweg benützt hatten - meistens war kein Gegenverkehr, so dass sie ohne Probleme an uns vorbeifahren konnten. Das konnten keine Radler gewesen sein, die um die vielen alltäglichen Probleme der "hilfreichen" Radwege gewusst hätten.
Was super war? Dass die Verpflegung an den vielen Checkpoints so abwechslungsreich war: nicht nur immer Semmeln, Bananen und Riegel sondern auch mal Spaghetti, Müsli, Bouillon, Pasta, Kuchen, Kaffee, Cola, Joghurt...
Was nicht ganz abgestimmt war? Dass die gesponsorten Radflaschen - die Schweizer sagen Bidon - "Schönwetter-Bidons" waren - also die ohne schützenden Deckel. So dass es also ab der Nacht (beim üblichen Samstags-Regen) beim Trinken des an sich guten Power-Getränkes immer zwischen den Zähnen geknirscht hat.
Was es gekostet hat? Viel Bremsen-Gummi und Felge.
Was toll war? Dass ein Radl-Kollege, der auf Grund seiner leider schlechten Tagesverfassung aufgeben musste, seinem Freund später mit dem Auto mitten in der Nacht nachgefahren war und wir ab da eine nette und hilfreiche Begleitung hatten.
Was schwierig war? Sich danach wieder so richtig sauber zu bekommen: aller angeklebte Straßendreck an den Waden und schließlich in Feinarbeit noch allen Staub aus den Augen zu holen - uns erscheinen die Bilder der Rad-Profis nach den verregneten Frühjahrsklassikern vor Augen, demgegenüber waren wir echt reingewaschen.
Was kurz war? Die Heimfahrt mit dem Zug, denn die habe ich weitgehend verschlafen.
Und um zu den Anfangsfragen zurück zu kommen: Wusstet ihr, dass man zum Radeln außer den Beinen auch noch die Schultern braucht? - Ich auch nicht. Aber die tun heute, einen Tag danach, bei jeder größeren Bewegung noch gigantisch weh. Das Sitzen auf einem gut gepolsterten Sessel hingegen macht mir keine Probleme.
Und das viele Regenwasser (bei meinem schon guten Rad-Computer fehlt noch die Funktion "Regenstunden pro Tag") hat wirklich vor nichts Halt gemacht: Die sowieso schon bunten Franken- und Euro-Scheine haben nun auch noch die Farben des Geldbeutels und beim Radputz musste ich die Reifen abnehmen, damit das Wasser aus den Felgen ablaufen konnte.
Am Tag danach? Nach einem langen Ausschlafen ein gemütlicher Morgenkaffee mit der Zeitung von gestern, Radpflege, ganz gemütlich eine leckere Salatschüssel - so ganz ohne Kohlenhydrathammer - und bei strahlendem Sonnenschein eine ganz gemütliche Fahrt an den Bodensee (heute nur 8 km) zum gemächlichen Schwimmen, mit Blick auf die sonnenbestrahlten Schweizer Berge - und immer wieder mal ein Gähnen zwischendurch.
Fazit: Wenn die Veranstalter versprechen, dass es künftig beim Ziel die Möglichkeit gibt, ein gemütliches "Ankunftsbier" zu trinken, werde ich versuchen, im Verein und darüber hinaus Werbung für diese spitzen Veranstaltung zu machen!
Sabine Reich, Friedrichshafen