1.07.06
616 km Non-Stop: Bern-Bodensee-Bern am 30. Juni 2006
von JÜRGEN HEILBOCK
Europameisterschaft im Ultracycling, RAAM-Qualifikationsrennen, Schweizer Militärradmarsch, Jedermannrennen und Brevet der Randonneure: eine Menge Kategorien für die Nordschweizer-Schleife mit rund 4000 Höhenmetern.
Mindestens 2500 Radkilometer werden empfohlen, Training im deutschen Mittelgebirge sei ausreichend, da in der Nordschweiz keine Alpenpässe bezwungen werden müssen. Mit viel Dehnungs- und Kräftigungsübungen für den Rücken und extra-dicken Radhandschuhen zum besseren Schutz der Hände und der Brevet-Teilnahme bei den deutschen Randonneuren über jeweils 200 km, 300 km, 400 km (www.ara.randonneure.de) fühlte ich mich ausreichend vorbereitet. 30 Stunden im Sattel bei über 30 Grad im Schatten (außer Nachts natürlich) und offensichtlich der falschen Radhose (die bis dahin immer die richtige war) und dann doch unbequemen Schuhen (noch nie Probleme damit gehabt) ließen mich eine neue Leistungsgrenze erkennen.
Okay, zu den technischen Details: die rund 600 km sind in appetitliche 10 Happen zwischen mindestens 30 km (die 9. Etappe) und höchstens 97 km (die 1. Etappe) eingeteilt. Nördlich von Bern (genau: in Wiedlisbach 450 m ü/M. Franky – das ist nicht weit von unserer Biel-Laufstrecke) geht es um 06:00 Uhr für die rund 130 Jedermänner los, wohlwissend, dass die RAAM-Fahrer und die Elitefahrer (ca. nochmals 100 Fahrer) am späten Vormittag die Verfolgung aufnehmen werden.
Die erste Etappe führt stramm nach Norden Richtung Rhein und hat bereits rund 700 Höhenmeter, ist der Rhein erreicht geht es nach Osten bis nach Koblenz (Mündung der Aare in den Rhein). Bei der ersten Kontrollstelle gegen 10:00 Uhr nehmen die meisten einen Kleiderwechsel vor, es ist brütend heiß, die Verpflegung ist eher mager (es bleibt auch so). Bei Zurzach geht es dann über die Grenze nach Deutschland und auf einer einsamen Seitenstraße kilometerweit bergauf um bei Bonndorf erstmals fröhliche fast 900 mü/M zu erreichen, zweite Kontrollstelle bei Ewattingen und dann kommt in der tollen Mittagshitze der einzige 16% der Strecke. Und der ist nicht einmal kurz. Man petzt sich so hoch und nach weiteren 50 km ist man (an Singen vorbei) wieder in der Schweiz bei der dritten Kontrollstelle bei Ramsen.
Von der Hitze und den Höhenmetern gezeichnet werden wir an der Kontrollstelle auf weitere zwei absolut flache Etappen über zusammen 140 km eingestimmt, das macht Mut. An Konstanz und südlich des Bodensees vorbei geht es nach Arbon zur vierten Kontrollstelle, hier erfahren wir auch den Zwischenstand der Fußball-WM, die Schweizer sind insoweit europa-patriotisch oder wie immer man das nennt. Zum Glück für einige meiner Mit-Radler ist die vierte Kontrollstelle mit einer Fahrradreperatur ausgestattet, der Verschleiß an Mensch und Maschine ist enorm. Mein Rad hält was es verspricht, die Hitze fordert aber Tribut- meine Aufenthalte an den Kontrollstellen werden immer länger (ich muß ja auf die Mitradler warten – das gibt immer eine gute Entschuldigung). Punkt 8 Uhr abends rollen wir nach Österreich, ich rufe kurz zu Hause an um der Tochter eine gute Nacht zu wünschen und sie ins Bett zu schicken.
In Österreich ist ein technischer Tiefpunkt erreicht, die Strecke ist schlecht, es gibt mehrere konfuse Umleitungen und zu viel Pkw-Verkehr (so werden aus 600 km eben 616 km). Leicht genervt sause ich an Liechtenstein vorbei weiter nach Süden nach Sargans dem südöstlichen Wendepunkt – wir sind wieder in der Schweiz. Nach rund 350 km gibt es die 5 Kontrollstelle, was Warmes zu Essen und eine Übernachtungsmöglichkeit – ein Feldbett). Bevor ich lange Nachdenken kann, wollen die Mitradler weiterfahren, auch gut. Nachtfahrten sind bei den heißen Temperaturen ohnehin besser.
Die sechste Etappe nach Pfäffikon hat auf 60 km rund 400 Höhenmeter, leider dichtgedrängt. Die siebte Etappe hat auf 68 km rund 700 Höhenmeter, vom Zürichsee geht es stramm nach Einsiedeln (dem Kloster) – dann der Sattelpaß mit 930 mü/M, nun ist es richtig kalt bei 14 Grad und gefühlten 10 Grad. Jetzt kommen auch die Elitefahrer und die RAAM-Qualifikanten.
Wir stehen am Berg, die fahren – es ist Morgengrauen und Küssnacht und die hohlen Gasse lassen grüßen – es ist beinhart.
Es sind nur noch 130 km und drei Etappen bei 800 Höhenmetern. Am Checkpoint 7 ziehe ich die Schuhe aus weil ich den Schmerz nicht mehr ertrage. Anstelle einer Blutlache oder schlimmeren ist eigentlich nicht viel zu sehen. Ich gehe einige Meter barfuß und schon fühlen sich die Dinger wie neu an. Auf das Frühstück könnte ich gern verzichten, das süße Zeugs hängt mir nach 24 Stunden zum Hals raus, dafür wollen sie für einen Kaffee 2 Franken. Die achte Etappe wird bereits wieder zu heiß, ich schiebe mir ein komplettes Röhrchen Traubenzucker als Frühstückersatz in den Hals und dann kommen zu viele Höhenmeter dafür endet die Etappe an einer Schaukäserei. Was immer das genau ist, jedenfalls gibt es Käse und Bauernbrot, das entspricht genau meinen Bedürfnissen.
Mit einem Brot links und einem Brot rechts (jeweils Backe, Hände und Trikotasche) mache ich mich an die Superabfahrt, die 9. Etappe ist mit 30 km und nur 81 Höhenmeter ein Genuß. Wir sind nun in den Vororten von Bern (wie auch beim Biellauf), es ist 10 Uhr morgens und der Thermometer ist bereits wieder bei den 30 Grad. Nun geht es eigentlich nur noch rund 50 km zurück zum Start bei schlappen 162 Höhenmetern - aber die Strecke zieht sich und die Füße schmerzen.
Die Fahrer in meiner Nähe klagen über ihre Sitzfläche, die Salzkristalle haben bei uns Hobbyradlern die oberste Hautschicht abgeschmirgelt, dann fährt man eben im Stehen. Unbelastet von solchen irdischen Details sausen noch immer die RAAM-Fahrer an uns vorbei, sie sind ja erst 24 Stunden unterwegs und offensichtlich nicht von dieser Welt.
Immer häufiger müssen wir Brunnen aufsuchen um den Kopf zu kühlen, die Hitze ist mörderisch. Schließlich kurz nach 12:00 Uhr und nach 30 Stunden und 22 Minuten kommen wir am Ziel an. Damit liege ich im statistischen Mittel (erstmalig 600 km bei 4000 Höhenmeter macht ca. 30 Stunden), komischerweise habe ich durchschnittlich 30 Minuten Pause gemacht bei 9 Kontrollstellen, war also nur 26 Stunden auf dem Rad, der Rest ist verdödelt worden. Wie leicht wäre ich wesentlich schneller gewesen, allerdings brauchte ich wohl die Pausen um den Streß (ein besonders großes Päckchen) mental verarbeiten zu können.